Direkt einen Tag nach der Europawahl debattierten der Präsident des Deutsch Französischen Wirtschaftskreises (DFWK), Joachim Bitterlich, der Deutschlandkorrespondent der französischen Tageszeitung „L’Opinion“, Luc André und der ehemalige Sonderkorrespondent für Wirtschaft und Finanzen von Reuters Deutschland, Gernot Heller, in Berlin über das Wahlergebnis zum neuen Europäischen Parlament.
War das ein guter Tag für Europa? Gernot Heller legt sich fest: Nein, das könne er so nicht unterschreiben. Zwar konnte in Deutschland mit 61,5% eine höhere Beteiligung als bei der letzten Europawahl verzeichnet werden. Auch haben die Populisten hierzulande schwächer abgeschnitten als befürchtet. Dennoch liest Heller das Wahlergebnis als Zeichen einer zunehmenden politischen Destabilisierung in allen EU Ländern. Für den ehemaligen Reuters-Mann, ist der Wahlsieg der rechtspopulistischen EU-Gegner in Frankreich, Großbritannien und Italien nur die Spitze eines tiefergehenden Problems: „Auch in Deutschland ist die Regierung nicht stabil und wurde durch die Wahl dramatisch geschwächt“, gibt er zu bedenken. Den Wahlsieg der Grünen erklärt er mit dem aktuell interessanteren Spitzenpersonal im Gegensatz zu den so genannten Altparteien der großen Koalition. Macrons Strahlkraft habe seit dessen überragendem Wahlsieg vor zwei Jahren in Frankreich ebenfalls gelitten.
Luc André wundert sich vor allem darüber, dass die Regierungsparteien in Deutschland den Klimaschutz als Wahlkampfthema gänzlich ungenutzt gelassen haben. „Vielleicht droht den deutschen Parteien eine Art Volkswagenmoment“, spekuliert er und meint damit eine plötzliche Erneuerung nach jahrelanger Untätigkeit. Die Tatsache, dass in Folge der Verluste der konservativen und sozialdemokratischen Fraktion im Europarlament zum ersten Mal seit 40 Jahren keine Zweierkoalition mehr möglich sein wird, sieht er aber auch als Chance für neue Bündnisse. „Das kann auch guttun und beleben“.
Als Bitterlich mögliche Mehrheiten im Europaparlament vorrechnet, haken beide ein. André findet es zwar positiv, dass es potentielle Mehrheiten von Parteien gibt, die sich für einen Erhalt der Union einsetzen. Trotzdem vermutet er Schwierigkeiten bei der Bildung einer Koalition: „Die Gruppe der Fraktionslosen ist sehr groß“, stellt er fest. Eine Stabilisierung der Mehrheitsverhältnisse würde er sich daher langfristig durch die Einführung einer Sperrklausel wünschen, die allerdings zuungunsten kleinerer Parteien gehen würde.
Heller vermutet eine schwierige Koalitionsbildung, weil noch ungeklärt ist, ob einer der Spitzenkandidaten der großen Fraktionen auch Kommissionspräsident werden darf. Dass Manfred Weber (EVP) als Kandidat der größten Fraktion das Amt für sich in Anspruch nehmen könne, sei nicht ausgemacht. Ihm fehlten Charisma und die Unterstützung des französischen Präsidenten. Auch Bitterlich spricht sich an dieser Stelle für die liberale Margrethe Vestager aus. „Es droht ein langer Hickhack“, fasst Heller die Lage treffend zusammen.
Seitens des Publikums kommen Fragen nach der wirtschaftlichen Stärke Frankreichs und Deutschlands auf. Heller kritisiert in diesem Zusammenhang zu geringe Investitionen Deutschlands in Forschung und Entwicklung. Angesichts einer schwächeren Konjunktur werde es für das Land immer schwieriger, wichtige Wahlkampfthemen wie den kostenintensiven Klimawandel sozialverträglich umzusetzen. André hingegen zieht eine positivere Bilanz für Deutschland: Auch nach Schwächephasen habe sich die deutsche Wirtschaft jedes Mal wieder „berappelt“.
Die gemeinsame Diskussion, klang bei einem feinen Glase französischen Weins zum leckeren Käsebuffet aus. Keiner der 30 Teilnehmer schien sein Kommen bedauert zu haben.