Von Isabelle Bourgeois
Die deutschen Medien erkennen „ihre“ „aufmüpfigen Gallier“ nicht mehr – unerwartet diszipliniert haben sich die Franzosen an den Lockdown gehalten. Ihre französischen Kollegen regen sich über die „Germanen“ auf, von denen man erwartete, dass sie sich am strengsten an die Regeln halten würden, obwohl diese bei weitem nicht so Freiheits-beschränkend sind wie die heimischen. Verkehrte Welt? Wieder versperren ewige Klischees die Sicht: Der „Deutsche an sich“ sei diszipliniert, „der Franzose“ rebellisch. Fehlanzeige.
Ja, die französische Bevölkerung hat es ohne viel Murren erduldet, ihre Freiheiten 55 Tage lang massiv von der Regierung und Zentralverwaltung einschränken zu lassen. Und zwar aus Angst vor dem Virus – dem Unbekannten, dem sie sich plötzlich ausgeliefert sah. Diese panische Angst wurde gezielt von der Regierung und den Medien geschürt. Wochenlag gab es in den Fernseh- oder Hörfunk-Nachrichten nur noch ein einziges Thema: Covid-19. Alle Sender schalteten gleich auf Intensivstation. Journalisten wie Politiker schoben massenweise Virologen, Infektiologen oder Epidemiologen in den Vordergrund. Es sprachen Götter in Weiß, die, wenn nicht gleich mit dem Weltuntergang, so doch zumindest mit dem qualvollen, nahen Tod eines Jeden drohten – sollte die Ausgangssperre missachtet werden. Dazu ständig Bilder von künstlich beatmeten Patienten oder – und darauf beschränkte sich die „Auslandsberichterstattung“ lange Zeit – massenhaft abtransportierten oder in einem Massengrab gestapelten Särgen. Der Inhalt der wenigen „Auslandsreportagen“ reduzierte sich auf Zahlen: Tote und Neuinfizierte. Erst später kam es zu kurzen, oberflächlichen, Vergleichen des Krisenmanagements. Das deutsche wurde gern als chaotisch dargestellt – ein ideales Gegenbeispiel für die angepriesenen Vorteile eines zentralen Vorgehens mit Frankreichweit identischen Maßnahmen… Die Wirklichkeit sah anders aus: Aus dem Elysee-Palast und von der Regierung wurde viel Widersprüchliches verkündet, so z.B. zum Umgang mit Schutzmaßnahmen. Verschwiegen wurde, dass Gesichtsmasken Mangelware sind; so wurden sie der Öffentlichkeit mal als effizient, mal als nutzlos, dann wieder als vielleicht doch nützlich präsentiert.
Kurzum, die französische Bevölkerung wurde Tag für Tag, teils absichtlich, teils ungewollt, immer weiter verunsichert. Eigentlich ein Kinderspiel, denkt man an den grundlegenden Pessimismus der Franzosen im Vergleich mit ihren europäischen Nachbarn. Mangelnde Perspektiven nähren ihn, sowohl was den eigenen sozialen Aufstieg angeht als auch das Wirtschaftswachstum des Landes; das ist zum Beispiel der Hauptgrund, weshalb die Spareinlagen in Frankreich so hoch sind. Das ist auch ein wesentlicher Grund, weshalb die Franzosen auch nach der vorsichtigen Lockerung der Beschränkungen vor ein paar Tagen sich doch lieber äußerst vorsichtig zeigen. Wer weiß, was noch kommt, und außerdem steht uns das Schlimmste noch bevor: Der Feind ist noch lange nicht geschlagen, ob es wieder genug Arbeit geben wird ist fraglich, und die vermutliche Antwort auf die Frage, wer die in der Corona-Krise angesammelte Schuldenlast tragen wird, lässt alle Zukunftsperspektiven in weite Ferne rücken.
Doch Asterix zeigt sich nicht nur aus Todesangst oder Panik vor den wirtschaftlichen wie sozialen Folgen der Corona-Krise fügsam. Frankreich ist ein Zentralstaat mit streng pyramidaler Hierarchie. Der Mensch, sei es in seiner Eigenschaft als Patient, als Arbeitnehmer oder als Bürger, hat sich stets einer Autorität zu fügen. So will es die pyramidale Organisation nicht nur der Institutionen, sondern der gesamten Gesellschaft. Das Individuum gilt per se als unmündig, das Wissen um das Allgemeinwohl wie die Macht, es zu definieren, obliegen im jakobinischen Staatsverständnis allein der Exekutive und der Zentralverwaltung.
Das Prinzip Eigenverantwortung des Bürgers ist unbekannt. Zwar gibt es ein ähnlich lautendes Wort („responsabilité“), das von Macron und seiner Regierung im Rahmen des Lockdowns gebetsmühlenartig ausgesprochen wird, doch ist es ein Appell an entgegenkommenden Gehorsam – nicht an freiwilliges Handeln und Haften. Dazu passen Redewendungen, die eigentlich zum Vokabular des Schulmeisters gehören, so etwa „gute/schlechte Noten“, oder Sätze wie „der Lockdown sei keine Bestrafung“. Ebenso, nur einen Tag nach der beginnenden Lockerung, die Drohung, die Notbremse zu ziehen und einen noch drastischeren Lockdown einzuführen.
Eine Gesellschaft des tiefen gegenseitigen Misstrauens
Chefs sind in Krisenzeiten gefragt – das gilt genauso für eine „Krisenkanzlerin“. In Kriegszeiten sind sie es erst recht. Die Rolle des Kriegsherrn hat Macron denn auch ausdrücklich gewählt, als er gleich zu Beginn der Corona-Krise dem Virus den Krieg erklärte. Das, worauf es ankam, hat er meisterhaft inszeniert: den im kollektiven Bewusstsein der Franzosen stets präsenten Bezug zu Besatzung und ganz besonders zur Résistance. In Anwesenheit des Feindes ist Buckeln angesagt – und gleichzeitig Widerstand. Dieses Narrativ traf den Nerv, die Franzosen hielten zusammen und folgten den Anweisungen.
Allerdings hat dieses Verhalten auch Schattenseiten, die ebenfalls in den 40er Jahren wurzeln – und zwar im Vichy-Regime. So hatten die „Corbeaux“ – Raben, so hießen damals die Denunzianten – während des Lockdowns Hochkonjunktur: Sieben von zehn Anrufen bei der Polizei galten dem Anzeigen von Nachbarn oder Menschen auf der Straße. Zwar spielt auch in Deutschland gesellschaftlicher Neid eine Rolle, doch macht er sich meistens an Eigentum und Statussymbolen fest.
In Frankreich kommt noch etwas Anderes hinzu: Die Gesellschaft ist auf tiefem gegenseitigen Miss-trauen aufgebaut. Vertrauen gibt es nur im engen Familienkreis. Die Welt darüber hinaus wird als grundlegend feindlich empfunden, niemandem kann man trauen. Das gilt für den Chef, die Kollegen, alle Fremden sowieso, aber auch für „die da oben“ in Paris. Die niedrigen Glaubwürdigkeitswerte der verantwortlichen Politiker – auch und gerade in der Corona-Krise – sprechen Bände. Dem Bürger steht keine Eigeninitiative, keine Eigenverantwortung zu – alles muss von oben bis ins letzte Detail geregelt werden. Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit – als Gegenteil des Universalprinzips – stünde dem entgegen und würde unmittelbar von jedem als Privilegierung Einzelner verstanden. Auch Regierung und Verwaltung misstrauen dem Bürger. So will es das jakobinische Staatsverständnis.
Bezeichnend eine kleine Anekdote. Vor einigen Jahren debattierten in der Deutschen Botschaft in Paris zwei Amtskollegen: Andreas Voßkuhle, Präsident des Bundesverfassungsgerichts und Jean-Louis Debré, Präsident des Conseil Constitutionnel. Während ersterer vom „Bürger“ sprach, bemühte sein Gegenüber den Begriff „le justiciable“, also: das Individuum, das der Gerichtsbarkeit unterliegt.
Aus Angst vor dem Virus und aus Misstrauen ihren Mitmenschen gegenüber halten sich die Franzosen auch jetzt bereitwillig an die „soziale Distanzierung“ („distanciation sociale“ sic!). Die Corona-Krise hat die tiefe Verängstigung der französischen Gesellschaft vor dem unsichtbaren Feind, dem Unbekannten, gezeigt. Zwar ist das Vertrauen in die politisch Verantwortlichen gering, aber sie sind ja die Chefs, vielleicht wissen sie mehr als wir, also tun wir vorsichtshalber, was sie von uns fordern – zumindest, bis die größte Gefahr vorbei ist – derweil denken wir uns unseren Teil dabei. Die Proteste der Gelbwesten oder der Gegner der Rentenreform und vieler anderer mehr schwelen weiter.
Asterix, wenn es keinen Zaubertrank mehr gibt oder Mirakulix noch keinen neuen gebraut hat, kann sich sehr fügsam zeigen. Aber wenn es darum geht, sein Dorf gegen „die Römer“ zu verteidigen, dann hält das komplette Dorf zusammen. Sobald die Gefahr aber vorbei ist, zeigen sich alle wieder rebellisch oder gar widerspenstig. Majestix oder Automatix oder Verleihnix und selbst Troubadix können ein Lied davon singen…