Europa ist in zentralen Fragen der Selbstbehauptung der Wirtschaft und Wissenschaft zunehmend von den USA und China abhängig. Können wir überhaupt noch die Wende erreichen oder haben wir gegen die europäischen Bürokratien und Risiko-Aversion keine Chance? Und welche Rolle spielen insbesondere Forschung und Innovation als Treiber europäischer Souveränität? Diesen Fragen ist der DFWK im Gespräch mit André Lösekrug-Pietri, Präsident der Joint European Disruptive Initiative (JEDI), nachgegangen. JEDI verbindet heute 4.000 engagierte Europäer aus Forschung, Technologie und Politik und fördert in mehreren Gebieten (Umwelt, Gesundheit, Digital) Sprunginnovationnen auf europäischer Ebene.
Der technologische Rückstand Europas wird allzu oft als Anzeichen für einen Mangel an finanziellen Ressourcen fehlinterpretiert. Seit 1984 hat die Europäische Union (EU) jedoch etwa 200 Mrd. Euro in Forschung und Entwicklung investiert, die US-Behörde DARPA (Defense Advanced Research Projects Agency) beispielsweise in den letzten 60 Jahren hingegen nur rund 50 Mrd. Euro. Gleichzeitig ist der Erfolg der DARPA unbestritten. Die Behörde wurde 1958 als Reaktion auf den Start des Sputnik-Satelliten der Sowjetunion gegründet – ein Schock für die Vereinigten Staaten. Seitdem hat sie wegweisende Innovationen wie das Internet, GPS und Tarnkappentechnologie angestoßen, die ihre Effektivität belegen. Wie kann es also sein, dass die EU trotz erheblicher Investitionen in den Bereichen Forschung und Entwicklung bei der weltweiten Technologieführerschaft hinter die USA und China zurückgefallen ist?
Europa fehlt der Fokus
Der Analyse von André Lösekrug-Pietri zufolge haben die USA, aber auch China, die Bedeutung gezielter Investitionen der öffentlichen Hand erkannt, während Europa manchmal noch von der „Investitionsdimension“ besessen ist. Bislang seien europäische Gelder im Bereich Innovation so vor allem im Zuge unkoordinierter Initiativen der Mitgliedsstaaten und einer Vielzahl von Strukturen, die mit der Europäischen Kommission verbunden sind, geflossen.
Gleichzeitig habe Europa nicht verstanden, in welchem Ausmaß autoritäre Staaten Technologie, Forschung und Wissenschaft nutzen, um ihre Werte nach außen zu tragen. Dadurch offenbare sich die Bedeutung von Forschung und Innovation als Treiber europäischer Souveränität nicht nur in Bezug auf wirtschaftliche und wissenschaftliche Wettbewerbsfähigkeit. Lösekrug-Pietri sieht auch einen „Kampf der Werte“ – wenn uns etwas an unseren demokratischen Werten liegt, dann sei es unabdingbar, im Bereich der Forschung und Technik Prioritäten zu setzen und eine gemeinsame europäische Vision zu entwickeln.
Auch sei es der EU, im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, nicht gelungen, alle beteiligten Akteure hinter einer regionalen Struktur, welche vor allem auf Durchbrüche bei disruptiven Technologien abzielt, zu vereinen. Lösekrug-Pietri ist überzeugt, dass grundlegende Innovationen nicht nur im Einklang mit den europäischen Werten stattfinden müssen, sondern auch einer kritischen Masse bedürfen, um letztlich zur Lösung globaler Probleme beizutragen. Dies habe sich zuletzt auch in der Corona-Krise gezeigt.
Eine Frage der Strategie
Damit sich Europa im Bereich der Forschung und Technologie weltweit eine führende Rolle sichern kann, brauche es vor allem zwei Dinge: Agilität und Voraussicht. Wenn wir nur die Schlachten von heute schlagen, müssten wir uns damit begnügen, den Punktestand zwischen Peking und Washington zu halten, meint Lösekrug-Pietri. Wenn wir hingegen eine Kultur der Antizipation annehmen, könnten wir künftig noch gut abschneiden. Um in Europa agil und vorausschauend zu sein, sei vor allem ein radikaler Strategiewechsel erforderlich. Denn strategische Autonomie bedeute letzten Endes vor allem „anders denken“, so Lösekrug-Pietri abschließend.
Die Veranstaltung fand am 23. Juni 2021 online statt.