Berlin – Paris, das deutsch-französische Verhältnis scheint weniger harmonisch, weniger geeint als viele glauben. Der Chronist sieht durchaus positive Schritte, kann aber die zunehmend kritische Entwicklung nicht beiseitelegen.
Vor der traditionellen Sommerpause – und zugleich als Beitrag zum 14. Juli, dem französischen Nationalfeiertag – hat der DFWK eine Serie von Veranstaltungen aufgenommen, um gerade in einem kritischen Wahljahr auf beiden Seiten des Rheins Interpreten aus beiden Hauptstädten zu Wort kommen zu lassen. Den Auftakt haben Thomas Wieder (Korrespondent von Le Monde in Berlin) und Thomas Hanke (bisher Korrespondent des Handelsblatts in Paris) gemacht. Einige Beobachtungen:
Eine Bilanz
Aus Sicht der beiden Journalisten fällt – über einen längeren Zeitraum betrachtet – die Bilanz der letzten Jahre positiv aus. Deutschland und Frankreich zeichnen sich durch zwei sehr unterschiedliche politische Systeme und Kulturen, daher verschiedene Herangehensweisen aus. Politische Ansätze, ob in der Europapolitik oder in der Verteidigungskooperation, werden durch verschiedene Linsen betrachtet. Gleichzeitig laufen – langfristig betrachtet – trotzdem viele deutsch-französische Prozesse flüssiger und schneller ab als zuvor. Politische Erfolge wie die Vereinbarung über die internationale Mindestbesteuerung digitaler Geschäfte oder der Europäische Aufbauplan NextGenerationEU zeugen von einer guten Abstimmung zwischen den Regierungen. Es gibt aber auch immer wieder eklatante Pannen wie z.B. jüngst in Sachen Mali, die den Beobachter erstaunen.
Vor dem Hintergrund der anstehenden Wahlen sehen unsere Beobachter drei – vier große Themen, die dringend der Vertiefung und Bereinigung, ja der öffentlichen Debatte bedürfen, sie haben aber darüber hinaus gehend zentrale Forderungen an beide Länder: einerseits eine breite sozialpolitische Initiative in der EU, angestoßen durch Deutschland und Frankreich, und andererseits die Sicherung – und „Selbstbehauptung“ – des europäischen Industrie- und Gesellschaftsmodells. Allzu oft werde die EU noch immer als trojanisches Pferd der Globalisierung betrachtet. Diese Herausforderungen gelte es, mit Blick auf die Wahlen in beiden Ländern und die französische EU-Präsidentschaft, entschlossen anzugehen.
Im Zentrum der Diskussion standen dann auch die drei – vier wesentlichen Themen, in denen sich Deutschland und Frankreich (noch) nicht einig sind:
Reform des EU-Stabilitätspaktes
Kann man unter den gegebenen Umständen noch an der klassischen „Maastricht-Regel“ festhalten – 3% (Neuverschuldung) und 60% (maximale Staatsverschuldung)? Wie kann vor allem der Schuldenberg, der (richtigerweise) während der Covid-Krise aufgebaut wurde wieder abgebaut werden? Zwischen Berlin und Paris fehlt noch immer ein Konsens zur Klärung dieser Frage. Sehr unterschiedliche materielle Ausgangslagen beider Länder erschweren den Prozess der Konsensfindung zusätzlich. So hat der Chefvolkswirt der Allianz in Paris, Ludovic Subran, ausgerechnet, dass Frankreich über 60 Jahre brauchen werde, um die zusätzlichen Schulden der letzten zwei Jahre abzubauen – Deutschland lediglich 6 Jahre. Die Interessenlagen beider Länder sind nicht deckungsgleich. Man müsse zugleich eine konsolidierungsbedingte Rezession vermeiden. Denn zu restriktive nationale Finanzpolitiken würden wiederum das wirtschaftliche Wachstum abwürgen. Berlin und Paris müssten in den nächsten Monaten, im Kräftedreieck mit Rom, glaubwürdig ausdiskutieren, wie der Schuldenberg abgetragen werden könne und solle.
Anti-Terrorkampf
Deutschland hat seine Truppen aus Afghanistan abgezogen, seine militärische Präsenz in der Sahelzone aber gleichzeitig verstärkt. Kurz nachdem der Bundestag das Mandat für die deutschen Truppen im Sahel aufgestockt hatte, hat die französische Regierung angekündigt, dort 5.000 Soldaten abzuziehen. Koordinierte Politik sieht anders aus. Neben einem zeitlichen Missverhältnis demonstriert dieses Verhalten aber auch die grundlegenden Unterschiede in der strategischen Vision beider Länder. Während der Eindruck entsteht, dass Frankreich bisher einen reinen Anti-Terrorkampf durchgeführt hat, versucht Deutschland – auch aufgrund seiner militär- und verteidigungspolitischen Tradition – die zivile Komponente (Stichwort: Nation-building) immer mitzudenken.
Future Combat Air System (FCAS)
Weder Frankreich noch Deutschland scheinen sich der technologischen (und nicht nur militärischen) Tragweite von FCAS – dem Luftkampfsystem der Zukunft – bewusst zu sein. Viele der Entwicklungen im Zuge des Projektes, wie beispielsweise die Steuerung von Drohnen-Schwärmen, finden auch eine direkte zivile Anwendung (z.B. Verwendung von Drohnentechnologie in der Intralogistik). Aber beispielsweise auch die Frage der Bewaffnung von Drohnen ist in Deutschland hoch umstritten. Hinzu kommt, dass die Frage des intellektuellen Eigentums und der Zweitverwertung von Erkenntnissen aus dem Projekt noch immer der Klärung zwischen beiden Ländern bedarf.
Nuklearpolitik
Man darf nicht vergessen, dass Ende 2022 die letzten Kernreaktoren in Deutschland abgeschaltet werden, während die Kernenergie in Frankreich auch langfristig ihre Bedeutung behält einschließlich der Notwendigkeit des Neubaus von Anlagen. Im Gegensatz zu Frankreich ist die Nutzung der Kernenergie in Deutschland nie von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt worden.
Auch mit der nuklearen Teilhabe der Bundeswehr im Rahmen der NATO tun sich Grüne und zunehmend auch die SPD schwer, eine Mehrheit im Bundestag muss mehr als fraglich erscheinen.
Französische EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2022
Die Gesprächspartner waren sich darin einig, dass wesentliche deutsch-französische Initiativen noch vor dem Beginn der französischen EU-Ratspräsidentschaft, d.h. im Dezember eingeleitet werden müssten, und diese vor allem darauf abstellen müssten, das Vertrauen der Bevölkerung in Europa zu konsolidieren.
Die Veranstaltung fand am 12. Juli online statt.