Joachim Bitterlich, Präsident des DFWK
Die große Mehrheit der Franzosen hatte die Zusage von Präsident Macron an die „Gilets jaunes“ vor zwei Jahren kaum ernst genommen, die Ecole Nationale d’Administration, die ENA aufzulösen. Es waren und sind doch ihre Absolventen, die über Jahrzehnte die Elite der französischen Administration und Politik gebildet haben. Und es war ausgerechnet Emmanuel Macron, der wie kaum ein anderer die Privilegien als einer der besten seines Jahrgangs der ENA genossen hat.
Viele dachten, Reformen ja, vor allem eine breitere Öffnung für den Zugang durch einen der in Frankreich üblichen Auswahlwettbewerbe wie vor allem eine wesentliche Neuordnung des Zugangs zur Verwaltung für die Absolventen dieser Kaderschmiede, aber eine Abschaffung – im Grunde nein!
Daher war das Erstaunen um so grösser als Präsident Macron seine Ministerriege im Frühjahr anwies, seine Entscheidung in die Tat umzusetzen. Die erste Verwaltungsverordnung steht inzwischen, vierzig andere müssen für die angestrebte grundlegende Neuordnung des Berufsbeamtentums noch folgen.
Ein Übergangsteam ist ernannt, wenn auch erst nach einigen Mühen. Eine Debatte in der Assemblée nationale über diesen tiefgreifenden Bruch? Warum? Der Präsident hat doch aufgrund einer generellen Ermächtigung entschieden, in deutschen Landen ein unvorstellbares Vorgehen.
Noch verwunderlicher muss erscheinen, dass das „Haus“ mit allen Konsequenzen zum 1. Januar 2022 „abgerissen“ wird, ohne dass ein Minimum an Klarheit über das künftige „Haus“ besteht. Paris stochert im Nebel, alle künftigen französischen Absolventen aus dreizehn verschiedenen Schulen sollen künftig ein einziges „Corps“ bilden, das der Verwaltungsbeamten des Staates. Die Auslese für Spitzenposten will man später trefen, in einer Art „Ecole de guerre“, was man militärisch als „Generalstabs-ausbildung“, in der Wirtschaft als „MBA“ übersetzen könnte.
Doch Ausnahmen gibt es schon jetzt, quasi unter dem Tisch geschaffen, um Ruhe an der Front vor den Präsidenten-Wahlen im April 2022 zu haben. Der Conseil d’Etat, oberstes Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsorgan hat seine Ausnahmen für die Rekrutierung des Nachwuchses erhalten, der Rechnungshof wird auf eine ähnliche Behandlung pochen.
Das Corps der Präfekten, Rückgrat der französischen Zentralverwaltung in den Regionen und Departements wird aufgelöst, viele seiner Mitglieder sind wütend, es sind Worte über Paris zu vernehmen, die noch nie so zu hören waren. Nun gut, der Präsident möchte auch Präfekten ernennen, die eben nicht aus dieser Laufbahn stammen, sondern eben zum Beispiel aus der Politik oder anderen Bereichen kommen. Daher der deutliche Vorwurf einer Politisierung der Beamtenschaft!
Emmanuel Macron rüttelt an den Fundamenten des französischen Staates. Grundlegende Reformen mussten kommen, mussten sie aber so weit gehen? Konnte man nicht konstruktiv damit umgehen? Musste man nicht zuallererst das Übel des französischen administrativen „Millefeuille“ beseitigen, das Durcheinander der Zuständigkeiten zwischen der Pariser Zentrale, den Regionen, Departements und Gemeinden beenden, um Frankreich neu aufzustellen und endlich eine vernünftige Dezentralisierung herbeizuführen?
Der Leser möge mir diesen Kommentar nachsehen, ich bin ein, wenn auch nur „ausländischer“ Absolvent dieses auch europäischen und internationalen Markenzeichens Frankreichs, das der Reform bedurfte, aber es seien Zweifel erlaubt, ob es deshalb der „destruktiven Zerstörung“ bedurfte, um die französische Administration zu modernisieren.
Bisher ist es zudem trotz einer ganzen Reihe von Demarchen völlig unklar, was künftig aus der internationalen Zusammenarbeit der ENA werden soll, die sich auf ihr Prestige gestützt hat. Dies gilt nicht nur zum Beispiel für die Kooperation mit Deutschland, aber auch für eine ganze Reihe von Partnerländern Frankreichs: Jüngst hat noch ein Land wie Montenegro die ENA darum gebeten, seine Minister systematisch auf dem weiteren Integrationsprozess in die EU zu begleiten. Für sie alle war und ist die ENA die Referenz, nicht aber das neue „INSP – Institut National du Service Public“, eine Institution, die gerade ihren Namen erhalten hat, deren Strukturen und Inhalte noch im Nebel stecken.
Die ENA war dank ihres letzten Direktors auf dem richtigen Wege, das neue „INSP“ scheint mir bisher eher auf dem Holzweg – und das ausgerechnet in einer Periode, in der sich Frankreich bewähren, seine Verwaltungsstrukturen weitgehend überdenken und seine Wirtschaft neu aufstellen muss. Wahlforscher gehen davon aus, dass der populistische Schuss des Präsidenten nach hinten ausgehen wird, er wird mit dieser Maßnahme keine Wählerstimme gewinnen, sondern sie verlieren.