Als ehemaliger deutscher Botschafter in Frankreich kennt Nikolaus Meyer-Landrut Frankreich wie kaum ein anderer. In seinem neuen Buch möchte er den Deutschen Geschichte und Gegenwart ihres Nachbarn näherbringen.
Nikolaus Meyer-Landrut war von 2015-2020 Deutscher Botschafter in Paris. Zuvor war er unter anderem Sprecher von Valéry Giscard d’Estaing im EU-Verfassungskonvent und engster europapolitischer Berater von Angela Merkel. Seit September 2020 ist Meyer-Landrut Botschafter der EU in der Türkei.
DFWK: Herr Botschafter, Sie haben ein Buch zu Geschichte und Gegenwart Frankreichs geschrieben, das sich vor allem an Deutsche richtet. Kennen die Deutschen ihren Nachbar noch zu schlecht?
Meyer-Landrut: Jede Generation muss unser großes Nachbarland neu entdecken, neu kennenlernen. Nicht weil eine Generation sich intensiv mit Frankreich beschäftigt hat, weiß auch die nächste Generation viel über Frankreich. Wir müssen uns also laufend mit Frankreich seiner Geschichte und seiner Gegenwart auseinandersetzen.
Welchen Ansatz haben Sie gewählt, um den Deutschen Frankreich zu erklären?
Ich habe versucht, historische Schlüsselmomente der französischen Geschichte der letzten 200 Jahre auszumachen, von denen ich glaube, dass sie auch heute noch wirkungsmächtig sind, Ereignisse seit der französischen Revolution, die auch die heutige französische Gegenwart noch prägen.
Ihr Buch beginnt mit der französischen Revolution im Jahr 1789, anschließend geht es um die Zeit unter Napoleon. Was lehren uns diese weit zurückliegenden Ereignisse über das heutige Frankreich?
Die französische Revolution und die napoleonische Zeit haben das Staatsverständnis Frankreichs nachhaltig geprägt. Das lässt sich heute noch in vielfältiger Art und Weise feststellen. Es beginnt mit der Devise der Republik Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Es geht weiter mit der staatlichen Organisation der Departements und die bis heute zentrale Rolle der Präfekten im Lande. Aber auch die Bedeutung des öffentlichen Schulwesens in Frankreich nimmt ihren Ausgangspunkt in der Revolution.
Sie beobachten in Frankreich eine größere Erwartungshaltung an den Staat, für seine Bürger zu sorgen, als in Deutschland. Woran liegt das?
Das Verhältnis der Franzosen zum eigenen Staat ist ungebrochen. Deutschland hat mit der Schreckensherrschaft der Nazis, der Verantwortung für den 2. Weltkrieg und dem einmaligen Zivilisationsbruch der Shoah, dem mehr als 6 Millionen Juden zum Opfer gefallen sind, eine völlig andere Geschichte, die auch den Glauben in die Allmacht des Staates erschüttert hat.
Der aktuelle französische Präsident Emmanuel Macron ist 2017 als Reformer angetreten. Wie bewerten Sie heute seine Bilanz und Erfolgschancen?
Präsident Macron ist als mutiger Reformer angetreten und hat in den ersten Jahren seiner Amtszeit auch sehr wichtige Reformen angeschoben, zum Beispiel im Bildungsbereich, im Steuerrecht oder im Arbeitsrecht. Durch den Ausbruch der Corona-Pandemie sind seit Anfang 2020 völlig andere Fragen in den Mittelpunkt der Politik gerückt, nicht nur in Frankreich, sondern weltweit. So wird man auch die Bilanz von Präsident Macron erst am Ende seiner Amtszeit und unter Berücksichtigung dieser Herausforderung abschließend beurteilen können.
Der vor kurzem verstorbene ehemalige französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing war ein Verfechter einer europäischen Verfassung. Diese wurde schließlich im Jahr 2005 in einem Referendum von der französischen Bevölkerung abgelehnt. Welche Folgen hatte dieses Ereignis für die französische EU-Politik?
Die Ablehnung des Verfassungsvertrags in dem Referendum von 2005 hat die französische Europapolitik für über ein Jahrzehnt gelähmt. Erst mit der Wahl von Emmanuel Macron hat Frankreich wieder angefangen eine engagiertere und mutigere Europapolitik voranzutreiben.
In den letzten Jahren wurde Frankreich immer wieder von islamistischen Terroranschlägen erschüttert. Zuletzt durch den Mord an dem Lehrer Samuel Paty, der seinen Schülern Mohammed-Karikaturen gezeigt hatte, sowie durch den Messerangriff in Nizza. Wieso wird Frankreich so oft zum Ziel islamistischer Terroristen?
Diese Frage lässt sich kaum in einem Satz beantworten. Sie hat mich stark beschäftigt und in dem Buch setze ich mich an vielen Stellen mit dieser Frage auseinander. Sicher gehören zur Antwort auf diese Frage das Verhältnis des Staates und der Gesellschaft zum Islam, aber ebenso die Koloniale Vergangenheit insbesondere mit Blick auf Algerien, dazu kommen sozioökonomische Gründe vor allem in den Vorstädten der französischen Großstädte.
Welche Gründe sehen Sie für das Erstarken des rechtsextremen Rassemblement National?
Der rechtsextreme Rassemblement National ist aus dem Front National hervorgegangen und hat schon eine lange Geschichte in Frankreich. Die Ursprünge reichen in die 60er Jahre und den Unabhängigkeitskrieg Algeriens zurück. Zum Erstarken dieser Bewegung hat sicher aber auch beigetragen, dass die anderen Parteien in der Frage des Umgangs mit dem RN oft intern gespalten waren.
DFWK: In Ihrem Buch bezeichnen Sie Deutschland als „ständigen Bezugspunkt“ für Frankreich. Ist für die Franzosen der Blick nach Deutschland wichtiger als umgekehrt?
Frankreich misst sich spätestens seit der deutschen Einigung wieder stärker an Deutschland, während für die deutsche Gesellschaft, Politik und Wirtschaft immer wieder auch außereuropäische Länder zum Bezugspunkt werden. Das können je nach Fragestellung die USA, China aber natürlich auch Frankreich sein.
DFWK: Das letzte Kapitel Ihres Buchs befasst sich mit der aktuellen Corona-Pandemie. Haben Sie die Gesundheitskrise auch als Krise der deutsch-französischen Beziehungen erlebt?
Ich habe nur den Anfang dieser Pandemie in Frankreich erlebt. Und in der Tat hat es ein wenig gebraucht, bevor die europäischen Reflexe gegriffen haben. Inzwischen ist das erfolgt und wir sehen, dass die innereuropäischen Grenzen kein Problem mehr darstellen.
Nikolaus Meyer-Landrut: Frankreich, Betrachtungen zu Geschichte und Gegenwart, Union Stiftung, 2020, 19 €