Autor: Bénédicte de Peretti, Vizepräsidentin des DFWK und Partnerin bei B2P Communications Consulting
Es ist eine Ratspräsidentschaft wie keine andere. Die Erwartungen sind hoch. Nicht nur, weil mit Deutschland die stärkste Volkswirtschaft der Europäischen Union ab dem 1. Juli für die Verhandlungen der Ministertreffen auf europäischer Ebene zuständig ist. Sondern auch, weil mit Angela Merkel die erfahrenste Regierungschefin eines EU-Mitgliedsstaats die Zügel in die Hand nimmt. Für sie geht es um nicht weniger als um ihr politisches Vermächtnis. Für Europa geht es um seine Zukunft
Große Erwartungen, wenig konkrete Macht
Die Liste der anstehenden Themen klingt kaum zu bewältigen: Ein Wiederaufbaufonds für die Europäische Wirtschaft nach der Corona-Krise in Höhe von mindestens 500 Milliarden Euro soll verabschiedet werden. Gleichzeitig muss eine Einigung über den siebenjährigen EU-Finanzrahmen (MFF) mit einem Volumen von circa einer Billion Euro erzielt werden. Außerdem tritt Großbritannien zum 31. Dezember 2020 definitiv aus der EU aus, ein Freihandelsabkommen muss her. Und als wäre das noch nicht schwierig genug zu erreichen, gibt es auch noch die europäischen Anstrengungen für mehr Klimaschutz, den Green Deal, der neben diesen verschiedenen Verhandlungs- und Kostenpunkten keinesfalls zurückstehen soll. Dasselbe gilt für die gemeinsame Migrationspolitik und die digitale Souveränität der EU.
Angesichts einer solchen Aufgabenlast stimmt es viele Beobachter hoffnungsvoll, dass die Geschicke der EU in den nächsten sechs Monaten von Angela Merkel, der erfahrensten Regierungschefin des Kontinents, gelenkt werden. Wer, wenn nicht sie, könnte die EU erfolgreich aus dieser Krise führen? Der sozialdemokratische EU-Abgeordnete Brando Benifei aus Italien sagt im Deutschlandfunk: „Es ist eine Chance für die Europäische Union in so schwieriger Zeit, in der wir eine starke politische Führung brauchen und Entscheidungsfähigkeit, besonders was den Wiederaufbauplan angeht. Es ist ein bedeutender Moment für die EU und daher eine sehr wichtige Präsidentschaft“.
Bei solchen Kommentaren könnte man vergessen, dass die Ratspräsidentschaft kein Amt ist, das mit einem tatsächlichen Machtanspruch verbunden ist. Deutschland, das die Treffen der Minister der EU-Länder leitet, kommt lediglich die Rolle eines ehrlichen Maklers zu. Eine Entscheidungsbefugnis ergibt sich daraus nicht.
Doch Merkel verfügt über andere Ressourcen, die sich in reale Macht übersetzen lassen. Da ist zuerst der Respekt, den sie in anderen EU-Ländern genießt. Während sie in Deutschland in den letzten Jahren starker Kritik ausgesetzt war und vor zwei Jahren sogar den CDU-Parteivorsitz aufgeben musste, gilt sie in anderen Ländern als das europapolitische Schwergewicht schlechthin. Ihr Netzwerk, das bei der Findung von Kompromissen eine entscheidende Rolle spielen wird, sucht seinesgleichen.
Frankreich ist der entscheidende Partner
Im deutschen Netzwerk spielt Frankreich eine entscheidende Rolle. Die Situation ist nicht ohne Ironie: Als Emmanuel Macron sich vor zwei Jahren mit einer flammenden Rede an der Sorbonne an Deutschland wandte, um gemeinsam die Reform der EU anzugehen, reagierte Berlin zurückhaltend. Erst in einer Notsituation, konfrontiert mit der Corona-Krise und den hohen Erwartungen an die eigene Ratspräsidentschaft, hat Merkel sich entschlossen, auf Macron zuzugehen.
Merkel war sogar bereit, mit dem deutschen Dogma zu brechen, eine Schuldenunion grundsätzlich auszuschließen, um eine Einigung mit Frankreich zu erzielen. Ergebnis war der gemeinsame Vorschlag eines deutsch-französischen Wiederaufbaufonds, der von der EU-Kommission konkretisiert und nun bereits seit sechs Wochen von den 27 EU-Mitgliedsstaaten diskutiert wird.
Diese plötzliche Wende lässt sich dadurch erklären, dass der europäische Binnenmarkt in einer Zeit, in der die USA und China protektionistische Tendenzen zeigen, für Deutschland immer wichtiger wird. Einen zu großen wirtschaftlichen Abstand zu den EU-Nachbarn kann sich die Exportnation Deutschland schlicht nicht leisten. Zudem zeigt Merkel so, dass sie verstanden hat, wie dringend eine Lösung ist. Und dass sie ohne den deutsch-französischen Motor nicht möglich ist.
Auftakt Europäischer Rat am 17. Juli
Das Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs am 17. Juli wird von EU-Ratspräsident Charles Michel geleitet. Auch wenn die Führung des Treffens in der Hand des Belgiers liegt, wird hier über die Erfolgschancen der Deutschen Ratspräsidentschaft entschieden. Denn das Treffen wird zeigen, wie geschlossen die Mitgliedstaaten in dieser außergewöhnlichen Situation agieren.
Gemeinsam agieren, schnell agieren
Angela Merkel drängt zur Eile: „Unser Ziel ist eine möglichst rasche Einigung“ – noch in diesem Sommer, betonte die Kanzlerin in ihrer Rede vor dem europäischen Parlament am 8. Juli 2020 bezüglich des MFF und des Wiederaufbaufonds. Denn sie weiß, dass jede Verzögerung auf Kosten von anderen dringenden Projekten geht, die während der deutschen Ratspräsidentschaft anstehen. Nicht zuletzt die Verhandlungen über ein Handelsabkommen mit Großbritannien, in denen ein schneller Erfolg nötig ist, um eine No-Deal-Krise zu vermeiden. Dass aktuell Arbeitsgruppentreffen wegen anti-Corona Maßnahmen nur eingeschränkt stattfinden können, erschwert zwar die Entscheidungsfindung. Doch Merkel hat keine Wahl. Ihr politisches Erbe und die Zukunft der EU stehen auf dem Spiel.