Der Deutsch-Französische Wirtschaftskreis (DFWK) hat an einem besonderen Ort an den 30. Jahrestag des Mauerfalls erinnert: Im Gebäude des DDR-Propagandaorgans „Neues Deutschland“ erzählten die Mitglieder von ihren persönlichen Erinnerungen.
„Guten Abend, stammen Sie aus Ost- oder Westdeutschland?“ – mit dieser ungewöhnlichen Begrüßung, wurden die Mitglieder und Gäste des DFWK an diesem Abend empfangen. Abhängig von ihrer Antwort konnten sie anschließend links oder rechts einer mannshohen Trennwand Platz nehmen, die den Raum, wie einst die Berliner Mauer, in Ost- und Westdeutsche teilte. Um die Illusion perfekt zu machen, war auch das Catering verschieden: Konnte man im „Westen“ Schweinebraten, Blätterteigpastetchen, Garnelensalat – und natürlich Bananen – probieren, so gab es auf der anderen Seite mit Soljanka, Jägerschnitzel mit Nudeln und Käsespießen mit Buletten bekannte Spezialitäten der DDR.
Nach einer Stunde war es der Vizepräsident des DFWK, Dirk Schneemann, der nach einer kurzen Begrüßungsrede den Weg freimachte für einen gemeinsamen Abend: Dafür spielte er auf einer Leinwand die Pressekonferenz mit Günter Schabowski ein, der mit den Worten „ meines Wissens ist das sofort…unverzüglich“ am 9. November 1989 die bekannten Ereignisse, die schließlich zum Fall der Mauer führten, initiierte. Auch auf der Veranstaltung des DFWK waren es die „Ostdeutschen“, die die Trennwand in der Mitte des Raumes entfernten. Anschließend stießen die Gäste aus Ost und West auf den Mauerfall an.
Während des zweiten Teils des Abends, erzählten Mitglieder des DFWK von ihren Erlebnissen im November 1989 – von der Teilnahme an der berühmten Pressekonferenz über die Beobachtung aus der Botschaft der DDR in Paris oder dem Kanzleramt von Helmut Kohl bis hin zum Familienbesuch in Dresden.
Bénédicte de Peretti
DFWK Vorstandsmitglied Bénédicte de Peretti berichtete als erste, wie sie selber als Auslandskorrespondentin einer französischen Wirtschaftszeitung in der berühmten Pressekonferenz von Günter Schabowski gesessen hatte: „Keiner war sich sicher, richtig verstanden zu haben, was Schabowski gesagt hatte“. Mit ihren Ostdeutschen Freunden geht sie trotzdem, nachdem sie ihren Artikel telefonisch übermittelt hatte, zum Grenzübergang am Checkpoint Charlie und beobachtet dort, wie der Druck auf die Grenzpolizisten steigt. Bis um kurz vor 23 Uhr endlich der Übergang geöffnet wird. „Es war ein Wahnsinns-Abend. Und niemand wusste, was das für die Zukunft bedeutet“. Als Bénédicte de Peretti nach einer spannenden Nacht um 3 Uhr morgens wieder nach Ostberlin zurückkehren möchte, versperren ihr die Grenzer den Weg: Da sie nur ein einmaliges Reisevisum hatte musste die Französin erneut ein Eintrittsvisum bezahlen.
Peter Obermark
Peter Obermark, ebenfalls DFWK Vorstandsmitglied erlebte den 9. November als Student an der Universität der Bundeswehr in Hamburg. „Wir waren im Kino. Um 21:30 Uhr ging das Licht an und ein Zeitungsbote der ‚MOPO‘ erschien. Er sagte: ‚Die Mauer ist auf‘ – und wir verließen den Filmsaal“. Mit seinen Freunden beschließt er anschließend, nach Lübeck zu fahren. „Die ganze Stadt war überfüllt mit Trabbis“. Am folgenden Samstag beobachtet er dort, wie ostdeutsche Familien vor dem Postamt für Begrüßungsgeld Schlange stehen. „Rundherum hatten sich schon Buden für Süßigkeiten und Würstchen angesammelt – aber die Leute konnten dort ja noch nichts kaufen. Ich habe deshalb mit einer Familie 10 DM gegen 10 Ostmark getauscht – das konnten die kaum glauben“.
Dirk Schneemann
DFWK Vizepräsident Dirk Schneemann war zum Zeitpunkt des Mauerfalls Handelsattaché der DDR in Paris. Dort erfährt er über das französische Fernsehen im „Journal de 20 heure“ von den Geschehnissen in Berlin. Noch von dem Ereignis überrascht empfängt er seine Frau an der Tür. „Du glaubst nicht, was passiert ist“. Irina Schneemann: „Honecker ist tot.“ Dirk Schneemann: „Nein, die Mauer ist auf!“ – Irina Schneemann: „Ich bin Berlinerin, ich bin dabei!“. Die Situation ist für Dirk Schneemann auch mit großer Unsicherheit verbunden: „Das war als wäre man ein Raumschiff im All und die eigene Landebasis bricht plötzlich weg“, erinnert er sich.
Joachim Bitterlich
Joachim Bitterlich, der Präsident des DFWK, erlebt die Ereignisse als Leiter des Europareferats im Kanzleramt von Helmut Kohl. „Schon ab Ende August wurden die Ereignisse immer schneller […] Am 9. November war Kohl auf Staatsbesuch in Warschau, bei der ersten demokratisch gewählten Regierung. Nach der Pressekonferenz von Günter Schabowski versuchten wir, ihn dort telefonisch zu erreichen. Das war sehr schwer, wir landeten erst beim Pförtner der Botschaft“. Als sie Kohl endlich am Telefon haben, sagt ihm sein Sprecher: „Herr Bundeskanzler, Sie müssen zurück!“. Kohl ist zögerlich, weil er befürchtet, die polnische Regierung durch seine Abreise zu brüskieren. Schließlich entscheidet er sich doch zur Rückreise, die er über Schweden und Dänemark nach Hamburg antritt, weil er das DDR Territorium nicht überfliegen kann. Mit einer US-Militärmaschine landet Kohl schließlich am 10. November in Berlin, wo er allerdings von SPD-Anhängern ausgepfiffen wird. „Nur von Willy Brandt kam aus der SPD Unterstützung. Der sagte seinen berühmten Satz: ‚Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört‘“. Doch die Folgezeit bleibt unsicher: „Wir hatten erstmal keinen Plan. Jeder hing nur privat vor seinem Fernseher. Bis zum 3. Oktober 1990 begann eine spannende Zeit“.
Ira Roschlau
Ira Roschlau erlebte die Ereignisse als 18-jährige, frisch immatrikulierte (Ost-)Berlinerin. Am 9. November ist sie in der Disco, muss aber wegen einer am nächsten Tag anstehenden Englischklausur rechtzeitig nach Hause. Am Morgen des 10. November hört sie die „komischen“ Meldungen im Radio. Die Klausur schreibt sie trotzdem noch. Mittags geht sie über den Tränenpalast in den Westen, holt sich das Begrüßungsgeld ab und kauft für die ganze Familie ein. Am Samstag, den 11. November fährt sie im Gegensatz zu ihren Schulkammeraden nicht in den Westen, sondern zum Besuch der Verwandtschaft nach Dresden. „Wir waren die Einzigen, die in diese Richtung fuhren. Auf der anderen Seite staute es sich“. Auf der Rückreise ist es dann umgekehrt: Als alle Westurlauber aus Berlin zurückfahren hat Ira Roschlau nach Berlin wieder freie Fahrt. „Man darf aber nicht vergessen, dass am Samstag in der DDR eigentlich Schule war“. Der Lehrer bemerkte in der Folgewoche, so viele Entschuldigungen wie in dieser Zeit hätte er noch nie erhalten.
Marlies Ullenboom
Marlies Ullenboom, die Volkswirtschaft in der DDR studiert hatte, berichtet, dass sie schon lange den drohenden Zusammenbruch des Ostens gespürt habe. „Als die Grenze geöffnet wurde, war das für mich ein Freudenschrei“.
Dirk Schneemann nahm die vielfältigen Berichte der DFWK Mitglieder zum Anlass, vor einer Schwarz-Weiß-Sicht auf die DDR zu warnen: „Ohne in Ostalgie verfallen zu wollen: In Filmen über die DDR liegt der Fokus immer auf der Repression, unter der die Bürger der DDR zu leiden hatten. Aber an vielen Tagen war das Leben auch einfach schön. […] Die Dinge sind wirklich komplex.“